Die IRZ führte Mitte Juni 2023 mehrere Präsenzveranstaltungen in Hanoi mit dem Obersten Volksgericht und der Obersten Volksstaatsanwaltschaft zum Schwerunkt Jugendstrafrecht durch. Diese Veranstaltungen betten sich in den seit 2010 bestehenden deutsch-vietnamesischen Rechtsstaatsdialog zwischen den Justizministerien beider Länder ein.
Das Oberste Volksgericht hat die Federführung für die Modernisierung des Jugendstrafrechts und plant 2024 die Verabschiedung eines eigenen Jugendgerichtsgesetzes. Anhand des übersetzten Gesetzentwurfs konnten in einem eintägigen Workshop mit ca. 40 Teilnehmenden Grundzüge des deutschen Jugendstrafrechts diskutiert und Empfehlungen ausgesprochen werden.
Im Fokus standen folgende Themen:
Ziele des Jugendstrafrechts und der Erziehungsgedanke
Anwendungsbereich des Jugendgerichtsgesetzes und System der Rechtsfolgen von Jugendstraftaten mit eigenem Sanktionssystem
Ziele, Kriterien und Formen der Diversion
Aufgaben und Funktion der Jugendgerichtshilfe
Die theoretischen Grundlagen wurden ergänzt durch den IRZ-Schulungsfilm „Raub einer Weste und deren Folgen: Eine Hauptverhandlung im Jugendstrafverfahren“. Die für die Veranstaltungen benötigte Expertise brachten die deutsche Jugendrichterin Annette Eisenhardt aus Berlin und der stellvertretende Generalstaatsanwalt Schleswig-Holsteins, Prof. Dr. Georg Güntge ein, sie erklärten anschaulich und lebendig die verschiedenen Prozessschritte. Auf expliziten Wunsch des Obersten Volksgerichts wurde der juristische Schulungsfilm auch bei der landesweiten Konferenz des Obersten Volksgerichts am 15. Juni gezeigt, an der sich neben 300 Präsenzteilnehmenden ca. 10.0000 online zugeschaltete Richterinnen und Richter beteiligten.
Partner für den zweitägigen Workshop mit ca. 60 Teilnehmenden zu Aspekten der Strafverfolgung und Aufsicht von Strafverfahren unter Einbeziehung menschenrechtlicher Garantien für weibliche und jugendliche Straftäter war die Oberste Volksstaatsanwaltschaft. Auch hier wurde der juristische Schulungsfilm eingesetzt, für den sowohl das Oberste Volksgericht und die Oberste Volksstaatsanwaltschaft aufgrund der großen Resonanz planen, diesen für Schulungszwecke an der eigenen Fort- und Weiterbildungsakademie einzusetzen. Das deutsche Expertenteam vermittelte praxisbezogen die Beachtung von Menschen- und Beschuldigtenrechten bei freiheitsentziehenden Maßnahmen und ging auf die Besonderheiten des Jugendstrafrechts ein.
Mit diesen Veranstaltungen konnte die IRZ in einer wichtigen Phase der Modernisierung des Jugendstrafrechts das Bewusstsein für ein differenzierteres Strafrecht für Jugendliche durch das Medium Film sensibilisieren und mögliche Elemente in die Gesetzgebung einfließen lassen. Die IRZ wird die Entwicklung des Jugendstrafrechts in Vietnam weiter begleiten.
Zusammen mit dem Bundesministerium der Justiz führte die IRZ im Rahmen des deutsch-vietnamesischen Rechtsstaatsdialogs Anfang Juli 2022 eine hochrangig besetzte Studienreise für das Oberste Volksgericht Vietnam nach Berlin und Karlsruhe durch. Zur elfköpfigen Delegation unter Leitung des Präsidenten Nguyen Hoa Binh gehörten Richter des Obersten Volksgerichts und des Bezirksgerichts Hanoi, der Direktor der Fortbildungsakademie des Obersten Volksgerichts sowie Vertreter weiterer Abteilungen.
Vietnam hat eine langfristige Strategie zur Entwicklung und Verbesserung der Rechtsstaatlichkeit initiiert. In dem Zeitraum von 2021 bis 2030 – mit Vision bis 2045 – sind umfangreiche Strukturreformen geplant, die auch den Justizbereich einbeziehen. So sollen Aufgaben und Befugnisse der staatlichen Organe auf legislativer, exekutiver und judikativer Ebene klarer abgegrenzt werden. Dem Präsidenten des Obersten Volksgerichts Nguyen Hoa Binh kommt hier eine zentrale Funktion zu – als Mitglied des Politbüros ist er für die Umsetzung von Reformen in der Justiz im Kontext dieses Rechtsstaatsprogramms zuständig. Vor diesem Hintergrund hatte das Oberste Volksgericht Vietnam um Fachgespräche zu Gerichtsorganisation und -verwaltung, Fachgerichtsbarkeit, Laiengerichtsbarkeit (Schöffen) und Jugendgerichtsbarkeit gebeten.
Der Auftakt dieses Kurzbesuchs erfolgte in Berlin im Bundesministerium der Justiz, wo sich die Delegation nach einem Video-Grußwort der Staatssekretärin Dr. Angelika Schlunck mit Referenten aus unterschiedlichen Abteilungen zum Aufbau des Gerichtssystems in Deutschland einschließlich der Strafgerichtsbarkeit und der Länderzuständigkeit sowie zum Jugendstrafrecht austauschte. Auf großes Interesse stieß das Konzept der Jugendgerichtshilfe sowie der Diversion, was bei einem nachfolgenden Besuch des Amtsgerichts Berlin-Tiergarten mit praktischen Ausführungen zur Sanktionierungspraxis im deutschen Jugendstrafrecht und durch eine Besichtigung der Räume der Opfer- und Zeugenbetreuung für Kinder und Jugendliche gut veranschaulicht wurde.
Die Studienreise fand ihren Höhepunkt im Bundesgerichtshof in Karlsruhe, wo zentrale Themen zur Gerichtsverwaltung wie Geschäftsverteilung und der Instanzenzug (Rechtsmittel, Nichtzulassungsbeschwerde) vertieft behandelt wurden. Die Delegation gab einen Überblick zu den umfangreichen Reformvorhaben im Justizbereich in Vietnam und unterstrich den besonderen Stellenwert des rechtsvergleichenden Diskurses mit den Kolleginnen und Kollegen des obersten deutschen Gerichts der ordentlichen Gerichtsbarkeit im Rahmen des Besuchsprogramms.
Der Delegationsleiter erbat die Übersetzung des deutschen Richtergesetzes und des Jugendgerichtsgesetzes ins Vietnamesische, da man bis Mai 2023 der Nationalversammlung Gesetzesentwürfe vorlegen müsse, bei denen man die europäischen Regelungen berücksichtigen möchte. Die übersetzten Gesetzestexte werden in Kürze der vietnamesischen Seite zur Verfügung gestellt.
Die Delegation reiste nach Abschluss der Gespräche in Deutschland zu einem weiteren fachlichen Austausch nach Frankreich weiter.
Die IRZ führte in der ersten Dezemberhälfte 2021 mit der vietnamesischen Juristenvereinigung Vietnam Lawyer´s Association (VLA) und dem Center for Consulting on Legal and Policy on Health and HIV/Aids (CCLPHH; assoziiert mit der VLA) einen Workshop zur Gesetzgebungsberatung zur Prävention und Bekämpfung häuslicher Gewalt durch. Die Veranstaltung bettet sich in den seit 2010 bestehenden deutsch-vietnamesischen Rechtsstaatsdialog zwischen den Justizministerien beider Länder ein.
Grundlage dieser Beratungsanfrage Vietnams an die IRZ ist die Reform des Gesetzes zur Prävention und Bekämpfung häuslicher Gewalt, welches die Nationalversammlung im Jahr 2022 in überarbeiteter Fassung verabschieden soll. Das seit 2008 geltende Gesetz zur Bekämpfung häuslicher Gewalt wird als unzureichend angesehen, und es ist geplant, in der Gesetzesnovellierung verstärkt die Bekämpfung psychischer und sexualisierter Gewalt zu berücksichtigen.
Der Workshop fand als Hybrid-Veranstaltung statt. Die vietnamesischen Teilnehmerinnen und Teilnehmer versammelten sich im Konferenzraum in Hanoi, die deutschen Expertinnen und Experten schalteten sich per Zoom zu.
Dr. Stefan Weismann, Präsident des Landgerichts Bonn und Susanne Bunke, Referatsleiterin aus dem Bundesministerium der Justiz (Referat Sexualstrafrecht; Kriminologie, Strafrechtliche Bekämpfung von Doping; Statistiken der Rechtspflege) brachten die deutschen Erfahrungen mit den einschlägigen Bestimmungen ein. Dabei wurden zivil- und strafrechtliche Aspekte des Gesetzes, Schutzmaßnahmen und die praktische Umsetzung beleuchtet.
Die vietnamesischen Referentinnen und Referenten sprachen in ihren Vorträgen konkrete Änderungsvorschläge des Gesetzentwurfs durchaus kritisch an und diskutierten gemeinsam mit den deutschen Referierenden Aspekte des deutschen Gewaltschutzgesetzes, der deutschen Regelungen zur Sanktionierung und der aktuellen Maßnahmen im Strafrecht, wie etwa die Reform der Sexualstraftatbestände („Nein heißt Nein-Lösung“).
Mit mehreren Vertreterinnen und Vertretern der vietnamesischen Nationalversammlung, verschiedener Ministerien und der zuständigen Redaktionsarbeitsgruppe war die Veranstaltung hochkarätig besetzt.
Insgesamt war die Veranstaltung von spannenden, offenen Diskussionsbeiträgen und lebhaften Diskussionen geprägt und bot den deutschen und vietnamesischen Vertreterinnen und Vertretern eine gute Gelegenheit zum gegenseitigen Austausch.
Die IRZ wird die weitere Entwicklung des Gesetzes zur Prävention und Bekämpfung häuslicher Gewalt weiter begleiten und bei Bedarf mit einer vertiefenden Folgeveranstaltung an diese Gesetzgebungsberatung anknüpfen.